Manchmal ist es unbedingt ratsam, sich von positiven Dingen wieder aufrichten zu lassen, als dass einen die negativen unnötig runterziehen. Eine Bronzemedaille also. Platz drei bei den deutschen Cross-Country-Meisterschaften. Man nennt so etwas für gemeinhin ein Erfolgserlebnis. Eine Bestätigung der eigenen Leistungsfähigkeit. Lohn für harte Arbeit. In Wombach, Dorfidyll unter blauem Himmel, Wald, Wiesen, ein staubiger Sportplatz, diesem malerischen Ort im Spessart, stehen Mitte Juli jene drei Frauen ganz oben auf dem Podium, die bis zuletzt um die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro bangten. Die zitterten, hofften. Ist Platz drei deshalb nicht vielmehr ein Sieg, als eine Niederlage?
Sabine Spitz, die neue deutsche Meisterin, fährt an diesem Juliwochenende in Wombach als Erste über den Zielstrich. Seit Monaten ist Spitz innerhalb der nationalen Konkurrenz das Maß aller Dinge, eine Klasse für sich, unangefochten und unumstritten. Dahinter folgen Helen Grobert und Elisabeth Brandau. In exakt dieser Reihenfolge wurde das Trio nach nervenaufreibenden und kräftezehrenden Monaten für Rio nominiert, obwohl der Bund deutscher Radfahrer bloß zwei Startplätze zu vergeben hatte. Elisabeth Brandau wird das olympische Rennen deshalb aller Voraussicht nach als Ersatzfahrerin verfolgen. Daheim in Schönaich, im Kreis ihrer Familie.
„Natürlich entschädigt dieser Podiumsplatz schon irgendwie“, sagt sie. Natürlich sei das ein Erfolg. Aber sie habe sich natürlich mehr ausgerechnet. Natürlich wäre mehr möglich gewesen. Das Rennen ist schnell erzählt. Früh setzen sich die vier derzeit besten Mountainbikerinnen des Landes vom Rest des Feldes ab. Spitz, Grobert, Brandau, dazu Adelheid Morath. Spitz diktiert das Tempo, enteilt, fährt einsam davon, doch dahinter ist es ein offenes Rennen um Platz zwei. Es sind Kleinigkeiten, die am Ende den Ausschlag geben werden. Bei Elisabeth Brandau sind es Probleme mit dem Material. Nicht gravierend, aber gravierend genug, „um am Berg entscheidende Zeit zu verlieren“. Und ihr unterläuft ein renntaktisch entscheidender Fehler.
Als Brandau im Rennen mehr und mehr realisiert, dass Adelheid Morath an diesem Tag nicht in der Verfassung für einen Podiumsplatz ist, entscheidet sie sich, erst Grobert überholen zu lassen, um dann selbst an Morath vorbeizufahren, um in Groberts Windschatten zu bleiben. Es ist die richtige Idee, die hinter dem Manöver steckt, aber die falsche Stelle. Als Brandau Morath ebenfalls passieren will, ist die Strecke nicht mehr breit genug. Wertvolle Sekunden verstreichen. Der Abstand auf Grobert wird zu groß, um ihn anschließend wieder zufahren zu können. „Mich hat das schon gefuchst“, sagt Brandau, weil der Bruchteil einer Sekunde, weil eine folgenschwere Entscheidung sie letztendlich die Silbermedaille kostet.
Und dennoch strahlt auch Bronze. Weil Bronze ein Beweis ist. Ein Beweis dafür, dass Brandau nach Schwangerschaft, Babypause, verspäteter und eingeschränkter Vorbereitung, nach den vielen Höhen und Tiefen, dieser unglaublichen Aufholjagd, sich als deutsche Nummer drei etabliert hat. Nationale Elite ist. Ein Beweis dafür, dass es kein Zufall war, die Olympianominierung derart knapp verpasst zu haben. Dass der Abstand auf die da vorne kleiner wird. Dass sich die ganze Mühe, der enorme Aufwand, dass sich alles, was sie zuletzt investierte, ausgezahlt hat. Auch wenn die Beine nun immer müder werden. Wenn der Körper sich nach Erholung sehnt. Der Kopf nach Abstand. Ruhe. Pause.
Das sind gerade keine leichten Wochen. Um ehrlich zu sein, sind sie verdammt schwer. Die Olympianominierung denkbar knapp zu verpassen, diesen Traum, der fast Wirklichkeit geworden wäre, doch platzen zu sehen – für Elisabeth Brandau, die von Partner und Saunahersteller Röger auf dem Weg nach Rio unterstützt und begleitet wird, ist das nicht so leicht wegzustecken. Schon gar nicht zu verarbeiten. Das alles zu verarbeiten, braucht Zeit. Selbst verdrängen geht nicht, wann immer einem gerade danach ist. „Natürlich fällt man da erst einmal in ein Loch“, sagt sie. Es ist eine beliebte Metapher unter Spitzensportlern. Aber vermutlich fühlt es sich genau so an. Wie in ein Loch zu fallen. Wie eine schmerzhafte Landung. Wie die Gewissheit, dass es mühselig wird, physisch wie psychisch, da wieder herauszukommen.
Wenn ein Sportler in ein Loch fällt, kann er sich dort verstecken, sich zurückziehen, den Kopf hängen lassen und den Mut verlieren. Oder er kann dort unten Kräfte freisetzen, denen etwas mystisches, magisches anhängt, weil so etwas rational und den Gesetzen der Logik nach nur schwer zu erklären ist. Kurz nach der Olympianominierung folgt Anfang Juli die Weltmeisterschaft. Elisabeth Brandau hat dieses Rennen auserkoren, es der Mountainbike-Welt zu zeigen, die sich im Biathlonzentrum von Nové Město trifft, um die besten Fahrerinnen zu küren. Zu beweisen, dass sie in Rio zwar nicht mitfahren darf, aber mithalten kann. Es mag wie eine Trotzreaktion klingen und hört sich doch wie Ehrgeiz an.
Dann wird sie krank. Die Ärzte verschreiben zehn Tage lang absolute Bettruhe. Nichtstun, statt auf dem Fahrrad zu sitzen und ihre Vorbereitungsroutine abzuspulen. Wertvolle Zeit geht verloren. Wertvolle Kraft schwindet. Und dennoch fühlt sich Brandau in der Woche vor dem Rennen stark genug. „Es war für mich keine Option, bei dem Rennen nicht anzutreten. Ich brauche die Weltcup-Punkte und ich wäre trotz Erkältung in die Top-25 gefahren.“ Es bleibt beim Konjunktiv. Eine theoretische Möglichkeit, weil es praktisch Unvorhersehbares gibt, das eine Fahrerin nicht beeinflussen kann. Kurz nach dem Start gibt es im dichten Gedränge einen folgenschweren Sturz. Favoritinnen scheiden aus, Brandau kann sich gerade eben auf dem Rad halten, verliert aber den Anschluss.
Sie kämpft sich zurück. Platz um Platz. Holt Sekunde um Sekunde auf, bis der Vorderreifen Luft verliert. Es ist keine Panne im klassischen Sinne. Das Material ist in Ordnung. Es gibt keine logische Erklärung für die Probleme. Sie wechselt den Reifen, macht sich erneut auf die Verfolgungsjagd. Es ist ein Moment, der eine ganze Saison beschreibt. Immer weiter. Rückschläge wegstecken. Weiter. Nicht aufgeben. Weiter. Aufholen. Weiter. Immer weiter. Bis ein Defekt an der Bremse alle Hoffnungen auf eine Platzierung unter den weltbesten 20 zunichte macht. „Am Morgen war am Rad noch alles gut“, sagt sie. „Mir ist nichts aufgefallen. Die Probleme kamen völlig überraschend.“ Platz 43. „Das war natürlich deprimierend.“
Platz 43 – das ist nur eine Zahl. Ein Ergebnis, das (aus dem Kontext gerissen) irgendwie ernüchternd ist, aber nicht isoliert für sich stehen darf, weil es sämtliche Umstände, alle Widrigkeiten außen vor lässt. Im Rennen selbst, sagt Elisabeth Brandau, „fängt man an, sich diese Frage zu stellen. Warum? Warum jetzt? Warum ich? Ich habe gemerkt, dass ich trotzt der krankheitsbedingten Pause immer noch auf einem gewissen Niveau mithalten kann, auch wenn ich nicht meine beste Leistung abrufen kann.“ Aber die Leistungsdichte in der Weltspitze verzeiht keine zwei Materialpannen in einem Rennen. Dazu hat ein WM-Fahrerfeld zu viel Klasse. „Manchmal“, sagt sie, „kommt alles zusammen.“ Manchmal soll es einfach nicht sein.