Es ist einer dieser frühen Frühlingstage, an denen die Sonne stärker als die noch winterkalte Luft ist, als Elisabeth Brandau auf dem Balkon ihres Hauses steht. In dem kleinen Laufstall neben ihr liegt Maximilian. Seine Geburt ist jetzt zehn Tage her, sie war das wahrscheinlich einschneidendste Erlebnis in ihrem Leben, einzigartig und überwältigend zugleich. Jetzt ist alles anders. Dass Maximilian die Dinge verändern würde, ihr Leben, ihre Karriere, das alles wusste die erfolgreiche Mountainbikerin natürlich, doch an diesem Tag im April hat er es längst getan. Es ist der Tag, an dem sie wieder einsteigt, wieder mit dem Training beginnt. Das erklärte Ziel sind die Olympischen Spiele im kommenden Jahr in Rio de Janeiro. Es ist ein weiter Weg und jetzt macht sie den ersten Schritt. Maximilian schläft, als seine Mutter auf ihr Fahrrad steigt, das auf dem Balkon auf einer Trainingsrolle steht, und in die Pedalen tritt.
Wie sehr die Sportlerin in ihr diesen Moment wohl herbeigesehnt hat? Wie sehr sie es wohl vermisst hat, nach Monaten der Schwangerschaft, in denen sie erst schweren Herzens ihre Saison vorzeitig beenden und dann das tägliche Training irgendwann ganz aus ihrem Terminkalender streichen musste? „Wenn ich ehrlich bin“, sagt Elisabeth Brandau, „gar nicht so sehr.“ Was dann schon ein wenig überrascht. Wer ihren Weg im vergangenen Jahr intensiv verfolgte, ihr ganz persönliches „Race to Rio“, das von Partner und Saunahersteller Röger unterstützt und begleitet wird, durfte eine Frau mit klaren Zielen und Vorstellungen kennenlernen. Eine Frau mit Ehrgeiz. Mit Durchsetzungsvermögen. Aber auch eine Frau, die über sich selbst sagt, sie sei in der Vergangenheit mitunter zu verbissen gewesen. Zu stur. Verkrampft. Zu gezwungen, was ihr rückwirkend betrachtet nicht immer geholfen hat.
„Ich habe einfach Spaß“, sagt sie jetzt mit einer überzeugenden Lockerheit, die nicht mit Sorglosigkeit oder Spannungslosigkeit zu verwechseln ist. „Seit Maximilian da ist, bin ich einfach relativ entspannt.“ Sie wirkt beflügelt, ja, und doch geerdet zugleich. Wenn sie über ihre ersten Trainingseinheiten und Trainingseindrücke spricht, über die Rückkehr in den Rennzirkus, ihre aktuelle Form und die Erwartungshaltung, dann ist Elisabeth Brandau ein gewisser Realismus, vielleicht sogar Pragmatismus, nicht abzusprechen. Viel ist dann von verschobenen Rahmenbedingungen und veränderten Möglichkeiten die Rede. Aber wenig von Vergleichen, von Rückschlüssen, weil man ihre Situation heute nicht mit der von gestern vergleichen kann. Sie muss ihre Situation richtig einordnen. Gemeinsam mit Trainern und Ärzten die richtigen Schlüsse ziehen.
„Ich darf mich nicht unnötig unter Druck setzen, aber ich muss mir klare Ziele setzen.“ Ziele, an denen sie sich orientieren kann. Sie braucht Ziele.
Zwei Wochen nach der Geburt spult Elisabeth Brandau die ersten Kilometer auf der Straße ab und nicht Wind und Wetter, Streckenprofil oder die eigene körperliche Verfassung bestimmen ihr Trainingspensum – also jene Faktoren, die sie Zeit ihrer Karriere schon immer begleiten, sondern es sind die Stillzeiten. „Mehr als anderthalb Stunden konnte ich am Anfang überhaupt nicht unterwegs sein“, sagt sie, „irgendwann waren dann auch zwei Stunden möglich und mit Anhänger sogar drei Stunden, was schon ein ziemlich gutes Training ist.“ Sie versucht penibel ihre Intervalle einzuhalten, die die Basis für ihr Comeback sind – und dann rechtzeitig wieder bei Maximilian zu sein. Die Grundlagen von Kraft und Ausdauer zumindest sind noch da, „das hat mich überrascht“, sagt sie. Auch wenn sie im Höchstleistungsbereich natürlich noch nicht wieder ihr altes Niveau erreicht, so ist es doch ein gutes Zeichen, dass sich die ganze Arbeit vor und während der Schwangerschaft weiterhin auszahlt.
Und doch sind da noch immer die Folgen der Geburt, „die ja nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden. Und nach dem Kaiserschnitt musste ich natürlich sehr vorsichtig wegen der Narbe sein.“ Bereits während der ersten Trainingstage spürt Elisabeth Brandau unweigerlich, was genau sich alles verändert hat. Was anders ist. Die Konsequenz? Kürzer und dafür härter will sie trainieren. Sie merkt, dass die Sicherheit und Unbekümmertheit der vergangenen Jahre noch fehlt.
Sie sagt, sie sei technisch unsicherer geworden. Doch sie weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Sicherheit zurückkommen wird. Und sie weiß, dass Ruhe, Erholung und Entspannung von größerem Gewicht sind, als sie es ohnehin schon immer waren. Sie muss mit ihren Kräften haushalten. Zu Kräften kommen. Sie muss auf sich achten, sich etwa den Schlaf, der ihr nachts fehlt, tagsüber zurückholen.
An ihrer Rückkehr zu zweifeln, sie zu unterschätzen, wäre indes ein großer Fehler. Elisabeth Brandau ist mehrfache deutsche Meisterin, ihr Talent ist unbestritten, ihr Wille ungebrochen. Nach der Geburt setzte sie das Bike Festival in Riva Anfang Mai als Termin für ihr Comeback fest, doch nachdem ein Leistungstest in den Wochen zuvor erstaunlich gute Ergebnisse liefert, entscheidet sie sich bereits eine Woche früher in das Renngeschehen zurückzukehren. Ende April, gut fünf Wochen nach der Geburt also, meldet sie ausgerechnet für die Schönbuch Trophy in ihrer Heimat- und Trainingsregion, 46 Kilometer, Marathon. Es ist eine erste Standortbestimmung, ein erster Leistungstest unter Wettkampfbedingungen. Es ist der Moment, an dem sie Gewissheit bekommt. „Die meisten haben mich für verrückt gehalten, dass ich dort antrete. Aber ich wollte wissen, was möglich ist und ob ich diese Distanz durchhalte.“
Vermutlich hätte es keinen besseren, keinen schöneren, vielleicht auch emotionaleren Ort geben können, um sich zurückzumelden. Elisabeth Brandau, die Marathon-Spezialistin, kennt in der Region jede Steigung, jede Kurve. Und obwohl sie im Rennen ein Defekt zurückwirft, obwohl sie, wie sie sagt, „im Gelände noch nicht richtig Druck machen konnte“, gewinnt sie die Damenkonkurrenz. Auch wenn das Rennen nicht mit nationalen und internationalen Top-Fahrerinnen gespickt ist, ist ihre Zeit (gemessen an ihrem Trainingsniveau) ein erster Fingerzeig. Nur eine Woche später dann Riva. Der nächste Gradmesser – auch, weil sie hier im Vorjahr gewann. Sechs Wochen nach der Geburt überquert Elisabeth Brandau als Zweite die Ziellinie. Was an sich schon beeindruckend genug wäre, aber die Zeit ist es noch viel mehr. Gerade einmal fünf Minuten fehlen ihr auf die Siegerzeit aus dem Vorjahr.
Was sie aus diesen ersten beiden Rennen mitnimmt? Motivation. Zuversicht. Den Glauben an die eigene Stärke. Die Kraft ist da und sie wird ihr Potenzial mit jeder weiteren Trainingswoche in den Knochen weiter abrufen können. Die Technik stimmte. „Ich liege natürlich noch hinter dem Niveau, das ich im Vorjahr zum gleichen Zeitpunkt hatte“, sagt Elisabeth Brandau, „aber ich denke, das ist verständlich. Es ist noch ein Stück bis zur Weltspitze.“ Sie hat in den vergangenen Jahren ein gewisses Gefühl für ihren Körper entwickelt, kann ihren Leistungsstand gut einschätzen. Sie sagt, sie wisse, in welchen Bereichen sie noch weiter an sich arbeiten muss. Sie sagt, sie wolle in diesem Jahr „ein paar Punkte im Weltcup sammeln“, was nach Understatement klingt, aber rational und objektiv ist. Diese Saison, die jetzt erst so richtig beginnt, ist dazu da, die Form aufzubauen, die sie braucht, um ihren Olympiatraum zu verwirklichen.
Was übrigens nicht bedeutet, dass Elisabeth Brandau in den kommenden Rennen nicht doch für die ein oder andere faustdicke Überraschung sorgen will.